Beruf: Der Schneider

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„Na los! Raus aus diesem elenden Loch, in dem Ihr Euch verkriecht! Kämpft wie ein echter Mann!“

 

Kämpfen? Wer wollte kämpfen? In seinen Stiefeln zitternd, war sich der Schneider der Stadt voll bewusst, dass der Mann, der ihn bedrohte, genauso gefährlich war, wie er klang. Er schloss die Augen und hielt für eine Sekunde den Atem an, zu Gott betend, dass sein Peiniger tatsächlich glauben würde, er sei nicht hier. Überall, nur nicht hier.

 

Einen Schneider wie Jan Herauldi hatte Wien noch nicht gesehen, geschweige denn jemanden, der ihm auch nur nahekam. Er stammt aus Italien und einige der berühmtesten Bewohner der Stadt hatten ihn angeworben, um den Adel mit der neuesten Mode auszustatten. Und dem Schneider zufolge war dies auch bitter nötig.

„Einige von ihnen sind so gekleidet, dass sich selbst ein Landstreicher noch schämen würde“, klagte Herauldi gegenüber einem Freund. „Absolut fürchterlich. Um Gottes willen, das sind Adlige! Eine derartige Garderobe ist unzumutbar.“

 

Nachdem er in Wien eingetroffen war, explodierte das Geschäft für Jan Herauldi förmlich. Alle hohen Herrschaften wollten von ihm eingekleidet werden, und dabei sollt der eleganteste und teuerste Stoff verwendet werden. Doch als die Monate verstrichen, wurde Herauldi zunehmend verärgerter. Jedes Mal, wenn er auf den Straßen von Wien entlang spazierte, riskierte er einen Herzanfall. Zwar trugen nun die meisten Leute seine Kleidung, jedoch war es nicht einen Deut besser als an seinem ersten Tag in der Stadt.

„Ich bin mit meiner Weisheit am Ende!“ So schrieb der Schneider einem italienischen Freund. „Was soll ich nur tun? Heute sah ich die Frau des Bürgermeisters auf dem Markt einen roten Hut zu einem lilafarbenen Kleid tragen! Grundgütiger, ich musste mich hinter einem Stapel Rüben verstecken. Sonst hätte sie noch ein Kompliment erwartet! Meine Kleider sind von bester Qualität. Der allerbesten! Doch egal, wer sie hier trägt, sie sehen nach Lumpen aus! Ich war noch nie in meinem Leben so betrübt und trinke mehr als gewöhnlich.“

 

Die italienische Familie Herauldi war nicht von Adel. Doch Jan fühlte sich wie ein Vertreter des hohen Standes. Er brüstete sich damit, dass er das Verhalten eines Adligen an den Tag legte: Er kleidete sich, sprach und ging wie einer. Er selbst entschied, wer er sein wollte. Es ging darum, ein führendes Beispiel zu sein, und dem Schneider ging es einfach nicht in den Kopf, dass die Bewohner dieser Stadt anscheinend nichts davon verstanden. Es kümmerte sie wohl auch nicht. Als Schneider arbeitete er hart daran, den sozialen Status der Damen hervorzuheben. Damit sie so wichtig aussahen, wie sie waren. Für ihn aber wirkten sie wie Bauern. Wie konnte das sein? Wie war es möglich, dass das Werk eines herausragend begabten Schneiders, sein Werk, die Wirkung verfehlte? Für Jan stolzierten die meisten Frauen der Stadt herum wie einfache Wesen, und die Männer trugen seine Kleider so, als hätte man ihnen einen Kartoffelsack übergestülpt.

 

Der Schneider weigerte sich aufzugeben. Er hatte einen Plan, der endlich die Wende bringen sollte. Alles in seiner Macht hatte er versucht, um diese hässlichen Entchen in Schwäne zu verwandeln, aber vergebens: Er wies sie sanft darauf hin, dass sie wie Narren aussahen; passte die Kleidung extra eng an; lief einem Herrn auf der Straße hinterher, um ihn zu belehren, dass man einen Hut nicht verkehrt herum trug … Harte Zeiten erfordern harte Maßnahmen. Der Schneider würde es ihnen schon beibringen, ob sie wollten oder nicht. Von Beginn an lautete seine Aufgabe, die Menschen in dieser Stadt zu den am besten gekleideten zu machen, und diesen Auftrag würde er erfüllen.

 

Damit auch jeder seine Absicht verstand, verkleidete der Schneider sich eines Tages als Stadtwache und „verhaftete“ Leute für ihr lächerliches Aussehen. Adlige, Bauern … Niemand war vor ihm sicher. Einige ignorierten ihn und gingen einfach weiter. Andere aber waren sprachlos schockiert ob der dreisten Überheblichkeit des Schneiders.

„Was glaubt Ihr, wer Ihr seid, mir zu sagen, ich sähe aus wie ein Narr?“ So fragten manche.

– „Nur ein Mensch, der seiner Arbeit nachkommt“, entgegnete der Schneider. „Ich helfe euch Leuten dabei, wie anständige Menschen auszusehen.“

 

Von Stolz erfüllt über die schockierende Wirkung war er überzeugt davon, dass die Leute endlich verstanden, was er ihnen seit Monaten beizubringen versuchte (dass sie wie Idioten aussahen). Dabei entgingen ihm jedoch die bösen Folgen seines Gebarens. Man redete. Über seine Kleidung, seinen Laden, über ihn … Aber nicht unbedingt positiv. Manche Frauen waren aufrichtig erschüttert über die Art, wie der Schneider und Junggeselle mit ihnen redete. Und das verblüffte Herauldi.

„Habt Ihr mich gerade hässlich genannt?“

– „Nicht ganz. Ich sagte, Ihr könntet schön aussehen, wenn Ihr Euch nur am Morgen die Zeit nehmen würdet, auf Eure Erscheinung zu achten, bevor Ihr das Haus verlasst.“

– „Oh! Mein Gott!“

 

Doch die Verblüffung des Schneiders hielt nie lange an. Er selbst sah seine „Verhaftungen“ nämlich als Komplimente, weil er den Leuten ja half, ihre schönen Seiten zum Vorschein zu bringen.

„In manchen Fällen“, schrieb er seinem italienischen Freund, „lüge ich jedoch eher, weil es ohnehin vergeblich ist.“

 

Für den Schneider war es ein Zeichen seiner Güte, wenn er sich die Zeit nahm, den Leuten zu sagen, wie töricht sie aussahen. Ohne seine Ideen und Vorschläge würde sich sonst nichts ändern, und das konnte Herauldi nicht zulassen.

 

Am Ende des zweiten Tages seiner Patrouille in den Straßen war der selbstzufriedene Schneider gerade voller Zuversicht auf dem Weg zu seinem Laden, als sich ein Fremder näherte.

„Seid Ihr Jan Herauldi?“, fragte der Fremde.

– „Das bin ich“, antwortete der Schneider ruhig. „Wie kann ich helfen?“

– „An Eurer Stelle würde ich laufen. Jetzt.“

– „Was redet Ihr da?“

– „Einige Ehegatten sind äußerst erzürnt darüber, wie Ihr mit ihren Frauen sprecht. Einer von ihnen versprach Euch eine ordentliche Tracht Prügel. Er sucht gerade jetzt nach Euch.“

– „Was?! Wie? Ich wollte doch nur helfen, und …

– „Sagt nichts und lauft einfach, wenn Euch Eure Nase und Zähne lieb sind.“

 

Der Schneider schaffte es gerade noch zu seinem Laden. Als er die Tür hinter sich verriegelte, fragte er sich, warum er überhaupt seine Heimat verlassen hatte. Da schlug jemand gegen die Tür.

„Öffnet die Tür, Hundsfott! Ich weiß, dass Ihr da drinnen seid!“

 

Mit angehaltenem Atem versteckte sich der Schneider unter dem Tisch, in der Hoffnung, dass der Mann draußen denken würde, er sei nicht zu Hause.

„Ich habe Euch im Laden verschwinden sehen, ganz wie die Ratte, die Ihr seid! Niemand redet so mit meiner Frau außer mir, ist das klar!?“

 

Mit geschlossen Augen versuchte Herauldi einen Ausweg zu finden, doch der Mann wollte einfach nicht aufhören.

„Seit sie Euch gestern traf, weigert sich meine Frau, das Haus zu verlassen! Sie geht nicht mehr auf den Markt, sie will überhaupt nichts mehr machen! Gestern Abend sollte es Lammwürstel geben, und wegen Euch kleinem Bastard, hatte ich nur trockenes Roggenbrot! Meine Frau war zu erschüttert bis ins Mark!“

 

In stillem Gebet, dass Gott den Mann verschwinden lassen würde, fand der Schneider kaum Zeit zu reagieren, als schon die Tür eingetreten wurde. In Sekundenschnelle hatte der Mann Herauldi am Kragen gepackt, unter dem Tisch hervorgezogen, und mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Dem Schneider wurde schwarz vor Augen.

 

 

*

 

„Wo bin ich?“

 

Als Herauldi erwachte, fand er sich auf dem Boden einer Gefängniszelle wieder.

„Hallo? Ist da jemand?“

 

Eine Wache tauchte auf, mit einem Grinsen im Gesicht.

„Seid Ihr also aufgewacht …“

– „Mein Kopf explodiert förmlich.“

– „Kein Wunder. Euch hat es ganz schön umgehauen. Ihr solltet froh sein, dass Ihr lebt. Der Mann, der Euch geschlagen hat, war sehr aufgebracht und hat nicht gerade den Ruf, besonders zimperlich zu sein.“

– „Aber warum bin ich in einer Gefängniszelle? Ich habe nichts Unrechtes getan.“

– „Das entscheidet nicht Ihr, sondern der Richter.“

– „Der Richter?!“

– „Ganz recht. Ihr solltet Euch lieber zusammenreißen, denn Euer Prozess beginnt schon bald.“

 

„Ein Prozess? Aber aus welchem Grund?“ Voll Entsetzen fragte sich der Schneider, was er nur falsch gemacht hatte.

„Störung der öffentlichen Ordnung“, gab die Wache zurück. „Die Frau des Bürgermeisters war übrigens auch unter den Frauen, die ihr als hässlich bezeichnet habt. Der Bürgermeister wird darauf drängen, dass man Euch schuldig spricht.“

– „Aber ich wollte doch nur helfen!“

– „Indem ihr die Leute als alte Kühe beschimpft? Das soll helfen?“

 

Der Richter gelangte rasch zu einem Urteil: Jan Herauldi wurde auf Lebzeiten aus der Stadt Wien verbannt, mit sofortiger Wirkung. Der Schneider musste zurück nach Italien.

 

Schon bald darauf entzündeten einige Leute ein riesiges Feuer und verbrannten Herauldis gesamte Kleidung. Sein Name war bald vergessen.

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