Spielfunktion: Das Talent „Entführung“

Alena träumte gerade im Hinterhof ihres Elternhauses vor sich hin, ausnahmsweise mal alleine, weit weg von all ihren jüngeren Brüdern und Schwestern im Haus. Es war ruhig, friedlich. Die Stille war schon fast erdrückend …

Doch sie ahnte nicht, dass sie ganz und gar nicht alleine war. Ein mysteriöser Mann versteckte sich in den Schatten der Bäume nur wenige Meter von ihr entfernt. Er zählte die Sekunden, bis er sich ihr nähern und sie mitnehmen würde. Schon die ganzen letzten Wochen musste er ständig an Alena denken. Er konnte einfach nicht aufhören, an sie zu denken, obwohl sie ihn kaum wahrzunehmen schien. Wie könnte Henryk das ändern? Wie könnte er sie auf sich aufmerksam machen? Dann kam ihm plötzlich eine Idee. Jetzt wusste er, was er tun würde.

 

Genau in diesem Moment sah Henryk, wie Godfrey, Alenas 16-jähriger Bruder, aus dem Haus trat. Lautlos und geduldig stand er hinter seiner Schwester und wartete auf den richtigen Moment, um sie zu erschrecken. Henryk sah, wie sich der Junge langsam nach vorne bewegte.

„BUH!“, rief der Junge.

– „Aaaah! Godfrey!“, schrie Alena.

Wütend schrie die Schwester ihren jüngeren Bruder an, doch Henryk stand zu weit entfernt, um sie verstehen zu können.

 

Seufzend entfernte sich Alena ein Stück von ihrem Bruder und ignorierte ihn, fest entschlossen, den Tag heute alleine zu verbringen. Aber Godfrey beobachtete sie immer noch und überlegte, was sie gemeinsam unternehmen könnten. Er wollte Zeit mit seiner großen Schwester verbringen, aber sie wollte immer ihre Ruhe haben. Godfrey verstand nicht warum und war sehr traurig darüber. Warum finden große Schwestern ihre Brüder immer so nervig?

 

Unterdessen näherte sich Henryk ihnen und beobachtete weiterhin jede ihrer Bewegungen. Er hockte hinter dem Zaun des Hauses und wartete darauf, dass die Sonne noch ein wenig weiter wanderte. Bei Sonnenuntergang würde es perfekt sein. Die perfekte Zeit für den perfekten Plan. Aber er müsste schnell sein, da die Sonne in Kürze untergehen würde.

Schon bald würde es dunkel werden. Aber das Glück war Henryk hold.

„Kannst du mich nicht einfach mal in Ruhe lassen?“, fragte Alena Godfrey.

– „Und dann was? Du willst immer nur in Ruhe gelassen werden. Du sprichst kaum mit einem von uns.“

– „Ich träume von dem Tag, an dem du endlich aufhörst, mich zu nerven.“

– „Du verhältst dich wie eine verzogene Göre“, sagte Godfrey zu seiner großen Schwester. „Weißt du was? Ich bin zwar zwei Jahre jünger als du, aber manchmal fühlt es sich so an, als sei ich der Erstgeborene. Nicht du.“

– „Oh! Herrgott noch mal“, sagte Alena, bevor sie sich erhob und ins Haus zurückkehrte.

Die Zeit war gekommen. Still und leise schlich sich Henryk mit seinem großen Sack, seinen Handschuhen und einem kleinen Lächeln heran. Ohne das kleinste Geräusch schnappte er sich den Jungen, legte ihm eine Hand auf den Mund, um seine Schreie zu ersticken, und zerrte ihn zu seinem Karren. Zurück an seiner Hütte brachte Henryk den jungen Mann hinein und zwang ihn, sich auf einen Stuhl zu setzen.

„Hallo, Godfrey. Wie geht es dir?“

Henryk konnte sehen, dass der Junge verängstigt war. Doch die Wortlosigkeit Godfreys verärgerte ihn von Minute zu Minute mehr. „Ich habe dich etwas gefragt!“, blaffte Henryk. „Du solltest mir lieber antworten, Freundchen! Ansonsten gehst du nirgendwohin!“

Godfrey verstand Henryk laut und deutlich und beantwortete aus Angst, sein Zuhause nie wiederzusehen, alle seiner folgenden Fragen. Der Junge konnte sich jedoch noch immer keinen Reim darauf machen, was Henryk eigentlich von ihm wollte. Deshalb verstummte er schließlich wieder. Henryk ging sowieso dazu über, mehrere Minuten lang vor ihm hin- und herzulaufen. Wahrscheinlich dachte er über seinen Plan nach … Godfrey wusste es nicht. Und blieb still.

 

Alena erwachte am nächsten Morgen in Traurigkeit. Sie war mit großer Sorge zu Bett gegangen. Ihr jüngerer Bruder Godfrey war verschwunden und niemand konnte ihn finden. Sie hatten den ganzen Hof auf den Kopf gestellt und auch den kleinen Wald hinter den Zäunen abgesucht. Doch es gab keine Spur von Godfrey und Alena hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie am Vortag so gemein zu ihm gewesen war, obwohl er nur Zeit mit ihr hatte verbringen wollen.

Sie begab sich für das Frühstück nach unten und ihr graute vor den Gesichtern, die ihre Familie machen würde. Jetzt, wo sie wussten, dass Alena kurz vor seinem Verschwinden mit Godfrey draußen gewesen war, würden sie sie sicher verantwortlich machen. Doch als sie in das Zimmer trat, in dem alle versammelt waren, standen die restlichen Familienmitglieder im Kreis und schienen ein kleines Stück Papier zu lesen. Darauf stand: „Wenn ihr ihn wiedersehen wollt, will ich bis zum Abendessen die Hand seiner Schwester zur Hochzeit. Ich will die, die mit ihm draußen war. Ich habe meine Frist gesetzt, nun seid ihr an der Reihe.“

 

Alena sah die verweinten Augen ihrer Mutter, dann das ernste Gesicht ihres Vaters und sie wusste Bescheid. Ihr Bruder würde zurückkehren. Und sie würde gehen müssen.

Sie war verloren.

 

*

PS: Wir möchten unter keinen Umständen zu „Entführungen“ oder Ähnlichem ermutigen. Dieser Text und die Texte auf Facebook sind mit einem Augenzwinkern zu verstehen! 🙂